Was, wenn die Märchen unserer Kindheit wahr wären? Was, wenn Bücher Geschichten nicht nur enthielten, sondern danach drängen, sie auch zu erzählen? Was, wenn wir in die Welt dieser Geschichten eindringen könnten?
Genau das ist es, was David in „Das Buch der verlorenen Dinge“ von John Connolly erlebt. Das Buch erzählt die Geschichte dieses Davids, eines Jungen im England zur Zeit des 2.Weltkriegs, dessen Mutter einer schweren Krankheit erliegt. Auch wenn er weiß, dass ihn keine Schuld am Tod der Mutter trifft, so leidet er doch sehr darunter und macht sich Vorwürfe. Die Situation verschlimmert sich als er erfahren muss, dass sein Vater nicht etwa in der Trauer um seine Frau weiterleben will, sondern plant, erneut zu heiraten und mit dieser neuen Frau auch noch ein Kind bekommt. David rebelliert und flüchtet sich in seine Bücher – bis er eines Tages hört, wie seine Mutter ihn ruft und ihn bittet, ihr zu helfen. David folgt der Stimme in den Garten des Hauses und dort weiter in ein Mauerloch des Senkgartens – auf dessen anderer Seite eine ihm fremde und doch merkwürdig vertraute Welt liegt. Eine Welt, in der sich die Märchen und Mythen unserer Welt zu einer eigenartigen Melange verbinden. Erschrocken vor den Gefahren dieser Welt will David fliehen und muss feststellen, dass ihm der Weg zurück versperrt ist. Einzig der König dieser Welt, ein alter Mann der im Sterben liegt und die Macht über sein Reich zu verlieren droht, kann ihm helfen, den Weg zurückzufinden. Denn der König besitzt das Buch der verlorenen Dinge, in dem Wissen alter Zeiten verborgen sein soll. Aber wer ist der krumme Mann, der Trickser, der David verfolgt und was sind dessen Ziele? So begibt sich David auf eine gefahrvolle Reise, in deren Verlauf er die Welt, aber auch sich selbst kennenlernt – und die ein überraschendes Ende nehmen wird.
John Connolly, 1968 in Dublin geboren, ist als Autor bisher eher durch seine, ebenfalls von übernatürlichen Ereignissen durchzogenen, Kriminalromane aufgefallen. Seine bekanntesten Werke entstammen einer Reihe um den Privatdetektiv Charles „Bird“ Parker, für die er z.B. als erster nicht amerikanischer Autor den Shamus Award der Private Eye Writers of America erhielt. Mit „Das Buch der verlorenen Dinge“ legt er sein erstes Jungendbuch vor, wobei der Begriff Jugendbuch nicht zu eng zu fassen ist. Und dies ist ihm wahrlich gelungen.
Erzählt aus der Perspektive des jungen David wirft er den Leser in eine Welt, in der all unsere Märchen noch etwas düsterer und dennoch amüsanter wahr werden, als sie es normal schon sind. Dabei balanciert er mitunter auf dem schmalen Grat zwischen Parodie und Lächerlichkeit – und fällt kein einziges Mal. So trifft David im Verlauf seiner Reise zum Beispiel sieben kommunistische Zwerge (Zwerg 8 wurde dank kapitalistischer Umtriebe ausgeschlossen), die damit gestraft sind, dass eine dicke, gefräßige und streitsüchtige junge Frau namens Schneewittchen bei ihnen lebt. Der Versuch, Schneewittchen zu ermorden und die Schuld dafür auf deren böse Schwiegermutter zu schieben, scheiterte nicht zuletzt an einem perversen Prinzen, der sich an der Scheintoten vergriff. Deswegen wurden die Zwerge nun vor Gericht dazu verurteilt, sich auch weiter um Schneewittchen zu kümmern, was ihnen einigen Kummer bereitet… Diese und andere Reminiszenzen schaffen eine Welt, in der sich der Leser sofort zurechtfindet und die trotzdem einige Überraschungen bereit hält. Und sie erschaffen eine atmosphärisch sehr dichte Welt, in der der Leser sich weder auf das Überleben der Protagonisten, noch auf das grundsätzlich Gute verlassen kann, das Jugendbücher häufig prägt. Vermutlich werden dem erwachsenen Leser im Roman einige Punkte auffallen, bei denen es nicht überinterpretiert ist, wenn man hinter ihnen erzieherische Aspekte vermutet –diese sind aber zum einen nicht so aufdringlich, dass sie den Spaß am Roman trüben, zum anderen ergänzen sie die Geschichte, da auch David in deren Verlauf einiges lernt und sich selbst erkennt. Auch die Tatsache, dass die Nebencharaktere und Antagonisten durchaus als skurril und teils abgründig gelten können und noch dazu eigene Motivationen verfolgen, hebt das Buch aus dem weiten Feld durchschnittlicher Jugend-Fantasyliteratur in das Genre der gehobenen Fantasyliteratur. Während sich Jugendliche vielleicht (ähnlich wie in einem der stereotypen Hohlbein Romane) mehr an den Abenteuern Davids und an seinen Lösungsstrategien erfreuen, wird der erwachsene Leser mit einem Schmunzeln die zahlreichen Anspielungen quittieren und so auf einer anderen Ebene genauso viel Spaß an dem Roman haben. In der Summe ist der Roman eine Empfehlung für alle Altersstufen, eine Empfehlung, die ich gerne ausspreche, da ich während des Lesens mehr als einmal herzlich lachen musste und jede Seite genossen habe. Touché, Mr. Connolly!
Diese Rezension entstand in der Kooperation der rpg-foren.com & dsa-fantasy.de