Heredium
Originalidee: Andreas Schell
Verlag: 13M[SIZE=1]ANN[/SIZE]
Erscheinungsdatum: 23. oktober 2008
420 Seiten
2190 – Die Welt ist hoch technisiert. Eine Besiedelung des Mondes ist (in Grenzen) erfolgt, an einer Besiedlung des Mars wird gearbeitet. Leider ist die Welt aber nicht friedlich, der Mensch selbst scheint der Erde die Gelegenheit gegeben zu haben, sich gegen die fortgesetzte Umweltzerstörung zu wehren: 2055 erfindet der Geophysiker Prof. Dr. Liun Tse Naoh ein nach ihm benanntes Verfahren um Schadstoffe aus der Atmosphäre zu filtern. Es dauert 16 Jahre bis die Nebenwirkungen des Verfahrens offensichtlich werden – die gefilterten Schadstoffe haben zu einer gasförmigen Verbindung reagiert, die zu Mutationen von Flora und Fauna führt – Mutationen deren Auswirkungen die Vormachtstellung des Menschen auf der Erde bedroht. Ein Kampf gegen die Natur beginnt, ein Kampf den der Mensch in den folgenden 120 Jahren nicht gewinnen, aber in dem er wenigstens seine Stellung halten kann. 2190 nun ereignet sich ein folgenschweres Unglück, das niemand (?) vorhergesehen hat. Bei einem misslungenen Versuch, Wasserstoffvorkommen des Mondes zum Betrieb eines Fusionskraftwerkes anzubohren, zerreißt eine gewaltige Explosion den für unseren Planeten so wichtigen Trabanten. Bruchstücke des Mondes rasen so knapp an der Erde vorbei in die Tiefen des Alls, dass die Schwankung der Schwerkraft unseren Planeten aufs Tiefste erschüttern. In der Folge zerstören Naturkatastrophen die meisten Stätten der Zivilisation und die Bahn der Erde um die Sonne verändert sich. Dies führt zu einer katastrophalen Klimaerwärmung und der steigende Meeresspiegel legt die Meere über Teile der Zerstörungen.
10 Jahre später ist die Welt nicht wiederzuerkennen. Nur mehr 60 Millionen Menschen, die sich in 5 Machtblöcke teilen, bevölkern eine Welt, in der Technik selten und der Kampf gegen die durch Naoh-Mutationen veränderte Natur hart geworden ist.
In dieser Welt spielt Heredium – das neue Endzeitrollenspiel aus dem 13M[SIZE=1]ANN[/SIZE] Verlag.
Das Buch ist mit 417 Seiten ein dickes Brett, dessen Design jedoch erneut sehr gelungen ist. Auf dem schwarzen Kartonumschlag prangt in Silber der Logo des Spiels, der Mond mit Gasflamme. Auf den Seiten herrscht erneut der schwarz-weiße Glanzdruck vor, der in schöner (wenn auch serifenloser) Schrift und mit ansprechenden Zeichnungen einen hochqualitativen Eindruck erweckt. Einzig die Bindung scheint angesichts des Gewichts des Buches an ihren Grenzen zu sein – hielt bisher aber alle Belastungen, denen ich das Buch aussetzte stand.
Nach kurzen Einführungen in die Welt von Heredium, der Geschichte der Welt und der Rollenspiele im allgemeinen, beginnt das Buch mit der Vorstellung der auf der Erde verbliebenen fünf Zivilisationen. Diese haben es nach dem Mondfall, so die Bezeichnung der Katastrophe, nicht alle geschafft, ihr zivilisatorisches Niveau zu halten und verteilen sich auf vier Entwicklungsstufen. Die höchste konnte sich nur Temora halten, eine einzelne Kuppelstadt in Asien (Hirohito City) die den Mondfall unbeschadet überstand. Mit Plasma- und Protonenwaffen, Quantencomputern und exakt zugeschnittenen Stimulantien verteidigen sie ihre isolierte Siedlung gegen alle Begehrlichkeiten. Die Nordallianz, eine aggressive Kultur die aus den europäischen Kirchen, dem Militär und einigen Industriellen hervorging und der Raging Bull, eine Schmuggler-, Piraten- und Händlerorganisation, deren Hauptquartier sich auf den Resten Australiens befindet, konnten sich mit Entwicklungslevel III wenigstens ein modernes, wenn auch nicht hochtechnisiertes Niveau erhalten. Die Nordallianz verwendet dabei moderne Materialien und eine Art Cyberware um ihre Kämpfer für die Welt bereit zu machen. Im Raging Bull hingegen sammeln sich diejenigen, an denen die Umweltzerstörungen nicht spurlos vorbeigegangen sind – Mutationen verschiedener Stärke „schmücken“ die Körper der Mitglieder. Die vierte Zivilisation, die sogenannten Debellatoren, sind entweder die nächste Entwicklungsstufe der Menschheit oder aber die Folge der Naoh-Mutationen auf Menschen. Sie sind hochintelligent und beherrschen Psi-Kräfte, haben sich jedoch auch dafür entschieden, für ein harmonisches Miteinander der Menschen und den Erhalt der Natur zu kämpfen. Leider kann der Frömmste nicht in Frieden leben… Nach dem Mondfall sammelten sie sich vor allem im dank der Erdbeben und der Überschwemmungen vollkommen veränderten Nordamerika, technologisch wurden sie auf das Niveau des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurückgeworfen. Technologisch wieder in einer Art Mittelalter angekommen ist die letzte der fünf Hauptkulturen, die Kultur der Hezekieliten, welche vor allem Afrika beherrschen. Ohne es selbst zu wissen, tragen sie, die sie Technik als des Teufels ablehnen, in sich ein Zeichen ehemaliger Hochtechnologie, da sie alle von Naniten besiedelt sind, die über das Meereswasser, mit dem die meisten ihrer Riten verbunden sind, übertragen werden und die Worte des Propheten verbreiten.
Neben diesen fünf Hauptkulturen bestehen auch noch kleinere Kulturen und Widerstandsnester, die nicht direkt als Spielercharaktere vorgesehen sind und die Kulturen der Nomaden, welche aus allen genannten Kulturen stammen können.
Die fünf Hauptkulturen sind es aber, die um die Besiedlung der Welt und den Umgang mit den Hinterlassenschaften der Zivilisation kämpfen. Dass sie darum kämpfen deutet auch schon einen der Unterschiede zwischen Heredium und anderen Endzeitrollenspielen (wie z.B. Degenesis) an – die Stimmung der Spielwelt ist zwar keine positive (nach dem Weltuntergang auch kaum vorstellbar), aber auch keine gänzlich negative. Die Menschheit steht dem Untergang nicht scheinbar chancenlos gegenüber, sondern hat eine (letzte?) Chance, die sie ergreifen kann.
Das System, nach dem diese Spielwelt bespielt wird, ist einfach und schnell und geeignet, Charakter- und Stimmungsspiel zu fördern. Die Charaktererschaffung verläuft nach einem Punktesystem – jeder Charakter besitzt 6 primäre Attribute, die Werte zwischen 1 und 4 annehmen können, 5 sekundäre Attribute, die sich aus diesen ableiten sowie eine Anzahl von Fertigkeiten, die sich in Basis- und Spezialfertigkeiten unterteilen und die Werte zwischen 1 und 16 annehmen können. Dazu kommen je nach Kultur noch Vorteile und besondere Kräfte (Stimulantien, Ektoware, Mutationen, Psi- oder Nanitenkräfte), die durch Nachteile wieder ausgeglichen werden. Bei Proben gegen Fertigkeiten wird für jeden Punkt im zugeordneten Attribut ein W6 zur Hand genommen, geworfen und der Punktwert der Fertigkeit addiert. Das Ergebnis wird wie üblich mit einem Zielwert verglichen. Auch das Kampfsystem ist überschaubar. Nach dem Reaktionsvermögen wird eine Kampfreihenfolge ermittelt und Angriffe gegen eventuell modifizierten Widerstandswert des Gegners geworfen. Unter Umständen ist auch eine aktive Parade oder ein Ausweichen möglich. Der ermittelte Schaden wird von der Vitalität und im Anschluss von der Substanz abgezogen. Das Waffenarsenal, das den Charakteren je nach Kultur zur Verfügung steht, ist beeindruckend, auch wenn nicht jede Zeichnung gelungen ist.
Nachdem das Regelwerk noch ein paar Worte zu weiteren Ausrüstungsgegenständen außer Waffen und Rüstungen verloren hat, folgt eine detailliertere Beschreibung der Welt nach dem Mondfall – eine Beschreibung der man anmerkt, dass die Erschaffer von Heredium sich sehr intensiv mit möglichen Folgen ihrer Apokalypse beschäftigt haben und die deutlich macht, wie wüst und leer eine Erde wirken kann, auf der nur noch 60 Millionen Menschen leben, dafür aber eine wildgewordene Natur herrscht. Auch die Konfliktfelder, die sich zwischen den einzelnen Zivilisationen ergeben haben, werden im Zuge dieser Kapitel noch deutlicher.
Das Lektorat des Buches ist in weiten Teilen gelungen, schade allein, dass es sich ausgerechnet auf den letzten Seiten einen Patzer leistet. Die im Anhang zusammengeführten Spieltabellen sind leider nicht korrekt. Da die korrekten aber im Buch zu finden sind, wiegt dies weniger schwer und ist durch Kopien zu beheben.
Spätestens hier treten aber auch einige Setzungen deutlich hervor, die zwar sicherlich gewollt sind, aber etwas unlogisch bleiben. Zum einen ist das der zeitliche Rahmen, in dem die geschilderte Welt entsteht – zwar gibt man der Entstehung der Naoh-Mutationen rund 140 Jahre Zeit, anders sieht es aber mit den Veränderungen durch die Katastrophe aus. Das Sterben der gesamten Menschheit bis auf die verbliebenen 60 Millionen, der Untergang ganzer Kontinente im Meer, das Entstehen neuer Wüstenzonen durch die Verschiebung der Erdlaufbahn und das Abschmelzen der Pole – all das geschieht in 10 Jahren und ist dann schon wieder in einem weitgehend stabilen Rahmen angekommen. Natürlich hat dies für das Rollenspiel den Vorteil, dass jeder Charakter sich noch an die Zeiten erinnert, in denen die Welt besser war und erklärt einen Teil der „Es gibt noch Hoffnung“-Stimmung. Dies jedoch wird z.B. damit erkauft, dass man eigentlich keine der Machtgruppen, die beschrieben werden, als wirklich etabliert betrachten kann. Allen Zivilisationen, egal als wie stabil sie beschrieben werden, stehen die ersten wirklichen Machtkämpfe noch bevor – was man natürlich auch als möglichen Ansatzpunkt für spannende Geschichten betrachten kann. Aus dem Grundregelwerk geht jedoch nicht hervor, ob dies eine der Stoßrichtungen zukünftiger Entwicklungen der Welt sein soll.
Zum anderen – und das wiegt meiner Meinung nach schwerer – stellen die Konflikte zwischen den einzelnen Machtgruppen auch ein Problem für Gruppenkonstellationen dar. In vielen Rollenspielen gibt es unvereinbare oder zumindest schwer vereinbare Charaktere und Spieler und Spielleiter müssen eine gangbare Lösung finden, wenn zwei solcher Charaktere in derselben Gruppe durch die Welt ziehen sollen. Bei Heredium jedoch sind einige der Gruppen untereinander so verfeindet, dass es für einige Kombinationen entweder sehr kreative Lösungen braucht oder einige Details zum kulturellen Hintergrund ausgeblendet werden müssen. Zwar bietet das Regelwerk auch ein Kapitel, in dem kurz auf Probleme eingegangen wird, die beim Rollenspiel auftreten können und wie man diese löst, in diesem Kapitel findet jedoch dieser systemimmanente Konflikt keine Erwähnung.
Insgesamt ist Heredium ein interessantes System, das es verdient hat in weiteren Publikationen ausgebaut zu werden. Die Charaktererschaffung bietet weitgehende Freiheiten, so dass fast jeder vorstellbare Hintergrund umsetzbar ist. Manche Rollenspieler werden das Regelwerk jedoch vermutlich an einigen Stellen erweitern wollen:
So sind im Grundregelwerk für meinen Geschmack zu wenige Aspekte (Persönlichkeitsprofile, die Auswirkung auf die Regeneration der Aspektpunkte haben, die für den Einsatz der besonderen Fähigkeiten der Zivilisationen benötigt werden) beschrieben – Vampire die Maskerade z.B. liefert dafür aber weitere Beispiele.
Auch finden (dank der prinzipiell erfreulich kleinen Zahl an Fertigkeiten) die oft abschätzig „Fluff“ genannten, allgemeinen Fähigkeiten der Charaktere bei der Charaktererschaffung etwas wenig Beachtung – entweder regelt man so etwas ohne Punktevergabe durch ausführliche Hintergrundbeschreibungen oder aber durch das zur Verfügung stellen zusätzlicher Punkte zum Erwerb von Hobby- & Wissensfertigkeiten. Natürlich mögen Kenntnisse frankobelgischer Comics in einer postapokalytischen Welt keine Rolle spielen, runden Charaktere jedoch ab und dies kann man in einem Grundregelwerk auch durchaus erwähnen.
Im Moment ist Heredium meiner Meinung nach kein System um als Neuling ins Thema Rollenspiele einzusteigen (es sei denn mit Unterstützung erfahrener Mitspieler), jedoch für jeden, der sich mit postapokalyptischen Rollenspielszenarien anfreunden kann und dem z.B. Degenesis zu negativ und dem Lodlands Unterwasserwelt nicht gefiel, mehr als nur einen Blick wert.
Viel Spaß beim Antreten des Erbes (Heredium) der Menschheit!