Grundregelwerk

Vorstellung & Rezension des Grundregelwerks

Wie der Titel es schon andeutet, ist RATTEN ein eher ungewöhnliches Rollenspiel – im Gegensatz zu allen anderen mir bekannten RPGs spielt man nämlich keine Menschen, Fantasywesen oder Aliens, sondern Ratten.
Natürlich sind diese Ratten, das gibt das Regelwerk auch ganz zu Beginn zu, stark vermenschlicht, denn „wer will schon echte Tiere spielen“?
Sie leben in klansähnlichen Gemeinschaften, sogenannten Rotten in einem verlassenen Kaufhaus – jede Rotte in einer anderen Abteilung und auch daher mit verschiedenen Lebensstilen.

Sieht man davon ab, dass man Tiere verkörpert, so lässt sich RATTEN am ehesten mit einem postapokalyptischen Rollenspiel vergleichen – das Kaufhaus, das die Ratten bewohnen, wurde ohne augenscheinliche Gründe von den Menschen verlassen – und ähnlich wie postapokalyptische Squatter, die die Ruinen ihrer Vorfahren durchforsten, leben auch die Ratten inmitten für sie unverständlicher Artefakte der Erbauer. Und jede Rotte erzählt ihre eigene Geschichte, was das Verhältnis Ratte-Mensch betrifft. Die 7 Rotten entsprechen in etwa den in anderen Rollenspielen üblichen Charakterklassen:

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[li] So gibt es die Brandratten als Archetyp des religiösen Fanatikers, der die Erbauer als Erlöser anpreist,[/li][li] die Müllschlinger als eine Art Streuner, die von allem leben, was sie finden – archetypische Überlebenskünstler,[/li][li] die Sammler als eine Art Mafiosi, die von den zusammengetragenen Reichtümern der Erbauer sehr gut leben und diese Ressourcen auch anderen zur Verfügung stellen – gegen einen Gefallen archetypische Ganoven,[/li][li] die Rotaugen als archetypische Außenseiter (sie sind kleiner und haben ein helles Fell), die sich als typische Kundschafter in unbekannte Regionen des Kaufhauses begeben,[/li][li] die Scharfzähne als kampfbetonte Kultur, deren Macht in körperlicher Gewalt gründet, der Typus des Schlägers,[/li][li] die Laborratten als (verrückte?) Wissenschaftler, die versuchen, die Artefakte der Erbauer zu entschlüsseln[/li][li] und die Taucher als nicht wirklich im Kaufhaus lebende Ratten (sie leben im überfluteten Teil des Kellers), die wohl am ehesten dem Typus des Wilden/ des Stammesangehörigen.[/li][/ul]

Die Rotten leben nicht in ständigem Krieg miteinander, konkurrieren aber durchaus. Aber auch untereinander konkurrieren die Ratten der einzelnen Stämme, nämlich um ihren Ruf und ihre Namen. Insgesamt gibt es in RATTEN drei sogenannte Lieder, Werte, die von Ratten hochgehalten werden; Fang (aggressive, körperbetonte Taten), Auge (gewitzte oder geschickte Taten) und Herz (friedliche, vernünftige Taten). Jede Rotte schätzt dabei ein Lied besonders hoch ein und so versuchen Ratten Taten zu vollbringen, die ihre Lieder vermehren. Besondere Großtaten werden von der Rotte durch Namen belohnt, je mehr Namen eine Ratte trägt, desto höher ihr Status. Und auch ohne Krieg gibt es in der Welt von RATTEN genügend Gefahren – seien es eindringende Krähen, Katzen o.ä. oder einfach die Gefahren, die vom Erbe der Erbauer ausgehen.

Dies ist nun also die Welt, in die RATTEN die Spieler und ihre Charaktere entlässt – das Regelwerk beschreibt nun noch kurz das Kaufhaus, in dem die Ratten leben, nennt offensichtliches, lässt aber auch bewusst gewählte weiße Flecken.

Natürlich ist auch RATTEN ein Spiel, und Spiele brauchen Mechanismen, die regeln, wie die Teilnehmer Hindernisse und Konflikte überwinden können. RATTEN bietet hierbei ein sehr einfaches System. Jeder Charakter hat 4 Attribute (stark, schnell, clever, sozial) und eine Anzahl von Talenten. Die Attribute können Werte zwischen 1 und 3 annehmen, die Talente nur Werte von 0 oder 1. Prüfungen werden nun mit W6 gewürfelt, wobei immer 2 Attribute als Basis genommen werden - für jeden Punkt in einem Attribut darf man einen W6 werfen. Talente geben am Ende Bonuspunkte in Höhe ihres Wertes. Die beiden höchsten Würfelwürfe werden nun addiert (die anderen verfallen), ein passender Talentwert addiert und das Ergebnis mit der Schwierigkeit verglichen. Soweit, so einfach statistisch darzustellen. Etwas komplexer wird das System dadurch, dass nun auch noch Patzer und Glücksgriffe hineinspielen – zeigt die Hälfte oder mehr der Würfe eine 1, so liegt ein Patzer vor, sind die beiden höchsten Würfe Sechsen, so ein Glücksgriff.

Fazit:
RATTEN liefert auf seinen 72 DIN-A5 Seiten ein interessantes Rollenspielkonzept, das einfach dadurch besticht, dass es einfach und anders ist. Charaktere sind in wenigen Minuten erstellt – wobei da schon Zeit eingerechnet ist, sich Charakterzüge zurechtzulegen, die Regeln in noch kürzerer Zeit erklärt – und schon könnte man loslegen. Wer Terry Pratchetts „Trucker, Wühler, Flügel“ gelesen hat sollte auch keine Schwierigkeiten haben sich vorzustellen, welches Wunder das Kaufhaus mit all seinen Geheimnissen und Gefahren für so kleine Lebewesen wie Ratten darstellen muss.
Allerdings sind mit diesen Vorteilen auch diverse Einschränkungen verbunden: Ratten sind als Charaktere so anders als das Gewohnte, dass es schwierig werden könnte, die Gruppe lange bei der Stange zu halten. Vermenschlicht man die Ratten noch weiter, verlieren sie den Reiz der Exotik – tut man es nicht, könnte der Widerstreit zwischen Realismus und den verwendeten Kompromissen die Exotik schal werden lassen. Auch ist das Regelwerk so simpel, dass es wenig Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Das ist kein Nachteil, da Rollenspiel ja nicht von Machtzuwächsen leben sollte, sollte aber bedacht werden.
Insgesamt ist Ratten genau das, wonach es für mich schon vom ersten Moment an aussah – ein schnelles und exotisches Spiel für zwischendurch. Und der humane Preis von 11 € als gedruckte Version sowie die Möglichkeit, das Regelwerk auf der Entwicklerseite herunterzuladen, sollten es auch vielen Rollenspielern ermöglichen, es einmal zu versuchen. Denn es verspricht Abwechslung!

Anmerkung:
Ein erstes Szenario findet man ebenfall auf der Seite des Projekts Kopfkino zum herunterladen!