So. Gut. Fein.
Ihr sitzt jetzt also alle zusammen, online oder an einem Tisch, habt eure Charaktere und die Spielleitung textet euch eben mit all dem zu, was es zu sehen, zu hören, zu wissen, zu fühlen, zu riechen oder sogar zu schmecken gibt. Was jetzt? Tja, gute Frage. Fragen sind immer gut. Die Frage “Was kann ich den alles machen?” ist sogar eine ziemlich gute, aber auch eine, die am anstrengendsten für die SL zu beantworten ist. Kurz gefasst: “ALLES”. Beim P&P Rollenspiel ist es ja gerade toll, dass eure Charaktere eigentlich völlige Freiheit haben und tun und lassen können, was sie wollen. Allerdings müssen sie sich auch den entsprechenden Konsequenzen stellen, denn “einfach mal so ein paar Leute ausnehmen” oder “die hiesige Diebesgilde hops nehmen” wird auf nachvollziehbaren Widerstand stoßen.
Im Normalfall hat die SL etwas vorbereitet, das euch auf den Abenteuerpfad führen sollte, falls nicht, nun, entweder selbst schuld oder das ist Absicht (dann auch selbst schuld, ich spreche aus Erfahrung). Zu beachten ist hier allerdings immer noch, dass ihr als Spielergruppe mit euren Charakteren zusammen agieren solltet oder zumindest gewisse Absprachen existieren, da sich die SL sonst recht schnell dazu genötigt sehen könnte, euch mit Spiel- oder Erzählmechaniken zusammenzu"zwingen" und fühlt sich für niemanden am Tisch angenehm an. (OK, es gibt tatsächlich Leute, die es genießen, solche Situationen wieder und wieder zu forcieren, aber ich persönlich will mit solchen Personen dann auch nicht spielen. Soll ja, wie bereits erwähnt, allen Spaß machen.) Es sollte auch klar sein, dass die Charaktere in den meisten Fällen die “Helden” der Geschichte sind. Zwar gibt es genug Settings, die sich für böse Gruppen eignen, aber aus beinahe allen Erzählungen, die ich bisher gehört habe, wird das sehr schnell sehr eintönig und scheint mir für die SL sehr frustrierend - dafür sollte man der Typ sein (und sich die ein oder andere moralische/ethische Grundsatzfrage stellen).
Am besten habt ihr euch vorbereitet und euch mit eurer Figur der Wahl ein wenig befasst, sprich Hintergrundgeschichte (Klassiker wie “Vollwaise Einzelkind”, “Familie brutal ermordet”, “als Sklave verkauft und misshandelt” usw. usf. sind zwar genau das, Klassiker, passen in den meisten Fällen aber eher zu Protagonisten der Profanliteratur), Charakterklasse/typus, Sozialstatus, Volk und dessen Ansehen/Kultur in der Welt und was weiß ich was noch relevant ist oder sein könnte - glaubt mir, das kann sehr tief gehen, wenn man es darauf anlegt. Das macht es ja so toll. Wenn ihr also vorbereitet seid, habt ihr eine zumindest grobe Vorstellung davon, was euer Charakter will und wie dieser in einer gegebenen Situation wahrscheinlich reagieren wird. Perfekt. Jetzt gilt es, dem Rest eures traurigen Haufens (nicht böse gemeint, auf Stufe 1 trifft das auf die meisten Abenteurergruppen zu - ich meine >Magier, 1w4 Trefferpunkte< come on) euren Charakter vorzustellen. Wie viel ihr dabei enthüllen wollt, bleibt natürlich euch überlassen, auch abhängig davon, wie viel der Charakterplanung ihr gemeinsam gemacht habt. Prinzipiell ist es schlau, sich in der Gruppe abzusprechen, wer welche Rolle übernimmt und für welche Art von Aufgaben die Gruppe allgemein geeignet ist, aber es ist keine Pflicht. Wird dann halt … interessanter.
Eine Charaktervorstellung sieht meist so aus: Volk/Rasse, Aussehen, sichtbare Ausrüstung, Auftreten und Ausstrahlung. Die Reihenfolge ergibt sich dabei eigentlich von selbst, je nachdem, welchen Eigenschaften ihr als Spieler der Figur wie viel Gewicht beimesst oder wie die Situation beim “Kennenlernen” aussieht. Ein Beispiel: kürzlich habe ich eine neue Runde als Betatester eines in Entstehung befindlichen Systems beginnen dürfen, und die erste Szene fand in einer lichtlosen Höhle statt, jeder Charakter in seiner eigenen Zelle verwahrt. Nach dem ersten von der SL angefragten Wurf, blieb meine Figur erstmal im Reich der Träume und schnarchte den beiden anderen melodiös etwas vor. Als dann endlich alle (also auch ich) wach waren und mit ein wenig Zusammenarbeit die Zellen geöffnet, erwähnte die SL auch, dass wir nichts dabei hätten als das, womit wir zu Bett gegangen wären. Ich also “dann seht ihr im Schein unserer magischen Lichter einen nackten, stark behaarten und überraschend großen Zwerg - ohne Bart”. Letzteres war bewusst mit Pause und am Schluss erwähnt, dramaturgischer Effekt. “Außerdem hält er ein etwa Dolchlanges spitzes Stück Knochen locker in der linken Hand, die rechte reicht er euch zum Gruß und sagt: >Yustek aus der Blutlinie Groll des Keulen-Stammes<. Dabei wirkt er stolz und durch seine Nacktheit offensichtlich in keiner Weise gehemmt.” Dann noch nebenher erwähnen, dass mein Charakter unter seinesgleichen in Gefahr meistens vorne geht, und schon ist auch relativ klar, dass er ein Krieger ist.
Schriftstellern passiert es oft, euch wird es wahrscheinlich auch früher oder später passieren. Die Figur entwickelt ihr eigenes Bewusstsein und ihren eigenen Willen. Nicht einmal bin ich, mit der Stirn auf meine Hände gestützt, am Tisch gesessen, über meinen Charakterbogen gebeugt, und habe mit Verzweiflung versucht, meinen Charakter davon abzuhalten, etwas richtig, richtig dummes zu tun, einen Weg zu finden, eine andere Handlungsweise zu rechtfertigen, ohne dabei gegen die Natur meines Charakters zu agieren - nicht selten habe ich kopfschütteln resigniert und festgestellt, dass es nicht anders geht und das für meine Figur oder sogar die Gruppe Probleme bedeuten wird, vielleicht sogar den Tod. Und ehrlich gesagt: ich bin enttäuscht, dass noch nie einer meiner Charaktere gestorben ist. Ich kenne das Problem als SL sehr gut, aber das gehört in den anderen Blog. Zurück zum Sterben - akzeptiert die Sterblich- und Fehlbarkeit eurer Figuren, denn sonst könnt ihr euch gleich an den Bildschirm setzen und die Cheatcodes herausholen. Ohne die Möglichkeit des Versagens, wäre Rollenspiel nicht das, was es ist.
Viel Spaß mit der Sorte Spiel, die noch nie mit Safegames und Speicherpunkten gearbeitet hat. Der analogen Sorte.
cul8r, Screw