Das Thema der Geschichte lautet: „Was wären Sie lieber: klug oder glücklich?“ – so äußert sich zumindest Art Berry, der Protagonist des Romans Upload von Cory Doctorow. Art Berry ist Experte für Benutzer-Szenarien – das heißt er versetzt sich in die Lage des Kunden und versucht herauszufinden, was Kunden mit den gekauften Geräten eigentlich machen wollen, um dann den Produktentwicklern Vorgaben machen zu können. Als solcher ist er angestellt bei Virgin/Deutsche Telekom – und eher damit beschäftigt, deren Produkte benutzerunfreundlicher zu machen, denn er ist Agent povocateur des Eastern Standard Tribe, des Stamms der Östlichen Zeitzone (SÖZ).
Eastern Standard Tribe?
Damit sind wir in der Zukunft angekommen, die Cory Doctorow entwirft: Schon immer haben sich Menschen mit ihresgleichen zusammengetan, sei es mit Menschen gleicher Religion, mit gleichen Interessen. Das Internet hat dies noch verstärkt – über das Netz findet man Menschen, die nicht nur ähnliche Interessen haben, sondern überhaupt ein ähnliches Lebensgefühl teilen – überall auf der Welt. Aber um gemeinsam mit diesen Menschen aktiv sein zu können, muss man zur selben Zeit online sein wie die meisten anderen Mitglieder – was zur Definition der Stämme über Zeitzonen führte, die Zeitzone in der die meisten Mitglieder leben. Art kam auf diese Weise in den SÖZ – und da sich nun mit V/DT auch ein Konzern außerhalb seiner gewählten Zone um einen lukrativen Auftrag bemüht, ist er als Agent seines Stammes damit beauftragt, diese Pläne unauffällig zu unterminieren.
Leider kann Art das zur Zeit nicht, da er in einer Nervenheilanstalt festsitzt. Dies ist der eine der beiden Handlungsstränge, die das Buch durchziehen. Meist in der Ich-Perspektive wird erzählt, wie Art versucht seiner Gefangenschaft zu entfliehen.
Handlungsstrang 2 erzählt in auktorialer Erzählperspektive wie Art Linda kennenlernt und wie er gemeinsam mit seinem Kollegen Fede versucht, unauffällig in London seinen Geschäften nachzugehen. Linda kennenlernt – nun genauer gesagt anfährt, da sie ihn vors Auto läuft, dann gemeinsam mit ihr seine Versicherung betrügt und sich schließlich in sie verliebt. Diese Liebe, sein eigentlicher Auftrag und seine intelligenten Ideen sind es, die Art in Probleme und schließlich in die Nervenklinik bringen. In diesem Handlungsstrang taucht der Leser auch Schritt für Schritt in die geschilderte Zukunft ein, eine Zukunft die in gewissen Grenzen durchaus eine logische Fortentwicklung unserer Gegenwart sein könnte. Gerade kleine technische Details, wie der immer und überall mögliche Zugriff aufs Netz mittels eines Kommlinks und die Schilderung, wie sich die heutige Geschäftswelt in der Zukunft darstellt, machen diese Zukunft sehr plastisch.
Es entspinnt sich eine Geschichte, die ihre Eckpunkt in Liebe, Vertrauen, Verrat und natürlich ‚Business’ hat. Eine Geschichte, die alles hat was eine gute Geschichte ausmacht und durch ihr Setting zu einer guten, ich nenne es mal, ‘Low-SciFi-Geschichte’ wird. Eine, die den Leser immer gespannt sein lässt, was als nächstes geschieht, wie der Protagonist dies löst und wie sich die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen entwickeln. Nicht vergessen werden sollte auch ein feiner Humor, der das Buch durchzieht: Doctorow verarbeitet geschickt auch immer wieder Anspielungen auf die heutige Zeit und die heutige Technik. Und dies alles, ohne abzuheben - das Buch ist jederzeit gut zu lesen.
Was man jedoch nicht tun sollte, ist sich vom Klappentext irritieren zu lassen, in dem davon die Rede ist, dass die Stämme eine „andere Art Staaten“ seien, die „sich nicht weniger erbittert als ihre Vorbilder in der realen Welt“ bekämpfen, „nur mit völlig anderen Mittel…“ Das ist nichts, was im Roman wirklich thematisiert wird – der Roman kommt mit nur wenig Action aus, ist dafür aber sehr nah an seinem Protagonisten und seinen Beziehungsgeflechten.
Wem ist das Buch also zu empfehlen? Nicht all jenen, die aufgrund des Klappentextes zugreifen würden und auf eine Art-Actionkracher hoffe – dafür umso mehr allen, die feinere Geschichten mit interessanten Charakteren schätzen. Denen empfehle ich das Buch uneingeschränkt.
Interessant macht das ganze auch, dass der Autor teilweise Dinge schildert, von denen er dank seiner Biographie wirklich Ahnung hat. Cory Doctorow wurde 1971 in Toronto geboren und lebt mit Frau und Tochter in London. Er ist Mitbegründer der Open Rights Group, einer Gruppe, die sich mit den Themen Liberalisierung des Urheberrechts, digitale Rechte und Datenschutz beschäftigt. Von 2002-2006 war er Vorsitzender der Abteilung Europa der Electronic Frontier Fountation, er arbeitete bei der UN und hat nach 2006 beschlossen, sich vermehrt auf das Schreiben zu konzentrieren.
Passend zu seiner Grundhaltung veröffentlicht er alle seine Werke neben der gedruckten Form auch als pdfs, die der Creative Commons Lizenz unterliegen. Downloadbar sind diese auf Englisch auf seiner Webseite, oder auch auf deutsch beim heyne Verlag. Natürlich, und das gibt der Autor auch selbst zu, ist das auch eine gute Werbemaßnahme – denn wer will schon ein über 300 Seiten starkes pdf lesen…
Wer jedoch Cory Doctorows Stil kennenlernen will, findet auf der Homepage auch einige Kurzgeschichten, die, der Lizenz sei dank, auch in Übersetzung zu finden sind. U.a. eine mMn sehr interessante namens Scroogled, die einen über das Thema Datenschutz nachdenken lässt. Das alles und noch mehr auf Cory Doctorows Homepage.