Hallo zusammen,
mir ist bewusst, daß diese Frage durchaus provokativ ist, aber ich freue mich auch über jede Ergänzung meiner Sichtweise. Warum gibt es in der heutigen Zeit eigentlich noch Rollenspielsysteme, die auf Stufe und Klasse funktionieren? Ein Rollenspielsystem stellt einen Versuch dar, die Realität einigermaßen abzubilden, damit die angesagten Handlungen eines Charakters würfeltechnisch überprüft werden können.
Genauso sollte damit dann auch ein realer Mensch in ein System abgebildet werden können. Eine grundsätzliche Verteilung von Attributen und Fertigkeiten, bzw. Vor- und Nachteilen wird innerhalb gewisser Grenzen machbar sein. Nur welche Stufe oder welche Klasse haben wir als Menschen? Bei der Klasse kann man vielleicht noch an den Beruf denken, aber wie ähnlich sind uns unsere Kollegen, als daß man sagen kann, daß pauschal mit jedem Stufenanstieg für alle Personen in der Klasse teilweise die gleichen Fähigkeiten besser werden? Wenn ein System das die Realität abbilden soll, mit seinen gewählten Parametern oder näherungsweisen Äquivalenten aber nicht in der Lage ist, eine reale Person zu beschreiben, dann ist es fehlkonstruiert.
Das Problem der Stufe liegt ja darin, daß in den reinen Stufensystemen fast alles von dieser Kennzahl abhängt. Was hat z.B. die Stufe mit der Trefferchance im Kampf zu tun? Wenn der Char den Umgang mit der Waffe nicht übt, ist egal welche Stufe er hat. Er sollte nicht oder nur schlecht treffen können. Andersherum sollte derjenige, der Tag und Nacht an der Waffe übt, auch unabhängig der Stufe mit dieser umgehen können. Der Umgang mit der Waffe ist aber nur ein Teil des Lebens, so daß aus deren Training keine allgemeine Lebenserfahrung, die mit der Stufe repräsentiert werden soll, erwachsen muss.
Genauso stelle ich mir bei einem Stufensystem die Frage, warum ein Char eine große Menge Erfahrung sammelt, die erst einmal nichts bewirkt, und dann genau der eine Erfahrungspunkt kommt, der den Char sprungartig besser macht? Klassische Kaufpunktsysteme sind dort z.B. wesentlich linearer und nachvollziehbarer.
Die jetzt noch verbleibenden Stufensysteme, die ich kenne, sind dazu noch ziemlich unflexibel. Das ist sicherlich kein notwendiges Manko von Stufensystemen, aber eine Korrelation ist dennoch gegeben. Häufig wird für eine vermeintliche Vereinfachung eine Zusammenfassung gemacht. Z. B. wenn Klettern und Schwimmen Teil von Athletik werden. Die Dinge haben nichts miteinander zu tun, aber durch die Bündelung kann man sie entweder beide oder halt beide nicht. Das macht die Beschreibung eines Lebewesens aber sehr unpräzise bis falsch. Andererseits werden durch diese Bündelung die Fertigkeitspunkte pro Stufe auch arg knapp gehalten, so daß die Erlebnisse der einzelnen Abenteuer gar nicht mehr im Charakter abgebildet werden können. Alles in allen werden Charaktere dadurch relativ uniform. Jeder Mensch ist einzigartig, aber wenn man auf Charaktere gleicher Klasse und Stufe guckt, wird man feststellen, daß diese sich bedingt durch die schematisch gleichen Anhebungen nur bedingt voneinander unterscheiden.
Die notwendige Effizienz bei der Gestaltung des Charakters tut ihr übriges. Auch das ist kein ausschließliches von Problem von Stufensystemen, aber der Effekt verstärkt sich durch diese. Wenn der Char nur wenige Punkte pro Stufe kriegt, müssen diese im Zweifel auch effizient verteilt werden. In einen Kaufpunktsystem kann ich für meinen Char mal hier und da etwas Ineffizientes aber damit Individualisierendes lernen, ohne daß es weh tut.
Soweit mich mein Wissen nicht trügt, war D&D das erste Rollenspielsystem und wurde in 1974 aufgelegt. Ohne Wenn und Aber war das damalige System etwas komplett Neues und bahnbrechend. Bei einer solchen Neuentwicklung kann ich auch nachvollziehen, daß man versucht hat, gewisse Dinge erst einmal relativ einfach, bzw. pauschalisierend handzuhaben. Nur hat die Rollenspielwelt inzwischen fast fünfzig Jahre Zeit gehabt, sich weiter zu entwickeln und die Realität anders abzubilden. Vielen Systemen ist das auch auf unterschiedliche Art und Weise gut gelungen. Dennoch sind auf dem Markt immer noch Systeme – und ja auch gerade nicht als Nischenprodukte -, die eine solche krude Systematik wie die Stufe haben. Tendenziell soll über die Pauschalisierung, hier die Verknüpfung an eine Kennzahl namens Stufe, eine Vereinfachung erfolgen. Das ist bei den mir bekannten Systemen meiner Meinung nach nicht gelungen. Sie sind durch die Gestaltung halt nur anders.
Insofern sehe ich keinen Vorteil, aber diverse Nachteile in den reinen Stufensystemen. Daher noch einmal die Frage, was ist der Vorteil an Stufen/Leveln?
Grüße,
Elbaran