Wer stiehlt schon Unterschenkel

Mal zur Abwechslung kein aktuelles Buch, sondern eines, das ich im Antiquariat erstanden habe – Kriminalfälle aus dem 21. Jahrhundert.

Prokop legt hier eine Sammlung von Kurzgeschichten vor, die die Fälle des Privatdetektivs Timothy „Tiny“ Truckle im Amerika eines dystopischen 21. Jahrhunderts schildern. Kurzkrimis bilden aber nur die Fassade für die Schilderung der Welt, in der Truckle lebt.
Truckle ist ein kleinwüchsiger Detektiv in einer Welt, in der dank fortschrittlicher Medizin und Technik Menschen wie er eigentlich nicht vorkommen. Trotzdem hat er sich einen Ruf erarbeitet als DER Detektiv der oberen Zehntausend – ein Ruf der mit Privilegien verbunden ist. Zu diesen Privilegien gehört, dass er in einer Welt, in der Trinkwasser und vor allem gutes Essen genauso knappe Güter sind wie frische Luft, auf den Lieferlisten der Großkonzerne steht und dass er, um seine Klienten auch sicher beraten zu können, die offizielle Erlaubnis hat, einen abhörsicheren Raum zu betreiben um der staatlichen und anderer Überwachung aus dem weg zu gehen. Soweit, so ungewöhnlich, jedoch ist das nicht alles – im laufe des Buches offenbart sich auch, dass Truckle auf sich nur langsam klärende Weise auch in die Politik des Landes verstrickt ist und wie sich deshalb Probleme für ihn ergeben…

Bedenkt man, dass die Geschichten schon 1977 zu ersten Mal veröffentlicht wurden, finde ich es erstaunlich, wie wenig unrealistisch mir viele der geschilderten Details der Zukunft scheinen – oft haben alte SF-Romane ja das Problem, von der Realität entkräftet oder auch überholt worden zu sein. Prokops Vision jedoch ist teils beklemmend vorstellbar.

Die einzelnen Kurzgeschichten stechen nicht unbedingt aus der Masse der SF-Geschichten hervor – sie sind gut, aber für sich betrachtet nicht überragend. Was die Geschichten wirklich interessant macht und auch den Spannungsbogen des Buches schafft, ist die Verbindung der Geschichten über die Geschichte Tiny Truckles. Wundert man sich als Leser zu Beginn noch über manches Detail und vor allem über Truckles Informationsquellen und will herausfinden, was es damit auf sich hat, schlägt dies im Laufe des Buches in ein Bangen mit dem Protagonisten um.
Wunderbar gelungen ist dabei auch das Ende des Romans – da es genug offene Fragen zurücklässt um gerade zu nach einer Fortsetzung zu schreien, jedoch so viele, dass es unbefriedigend wäre.
Sprachlich merkt man dem Buch an, dass es zum einen 4 Jahrzehnte alt ist und zum anderen in deutsch verfasst wurde. So wirkt aus heutiger Perspektive mitunter komisch, wenn der Autor deutsche Neologismen für Dinge nutzt, die wir heute selbstverständlich mit englischen Begriffen belegen würden. Aber auch Satzbau und Wortwahl heben sich angenehm von denen vieler übersetzter SF-Romane ab. (Damit will ich nicht die Leistung der Übersetzer gesamt schmälern, sondern nur meinem Gefühl Ausdruck verleihen, dass Übersetzungen oft zu Satzkonstruktionen führen, die normalerweise nie gewählt würden.)

Insgesamt ein interessantes Buch, das durch den zugegeben flach steigenden Spannungsbogen erst nach den ersten paar Geschichten richtig fasziniert, dafür dann umso mehr.

Lesenswert!

Gert Prokop wurde 1932 in Richtenberg geboren und starb 1994 in Berlin durch Suizid. Neben „Wer stiehlt schon Unterschenkel“ und dessen Fortsetzung „Der Samenbankraub“ (bei 2003 & 2006 neu verlegt im Verlag Das Neue Berlin - daher auch das Titelbild oben links) könnte er dem ein oder anderen durch die Figur des „Detektiv Pinky“ bekannt sein. Mehr über den Autor auch im Krimilexikon, den Wikipedia-Artikel zu diesem Buch würde ich mit einer Spoilerwarnung versehen.

AW: Wer stiehlt schon Unterschenkel

Ich habe beide gelesen und finde sie einfach hervorragend. Als alter Ossi habe ich mich auch schon an Prokop’s Kinderkrimi “Detektiv Pinky” sehr erfreut und dieses Buch kann ich auch nur empfehlen, nicht nur für Kinder. Schade das sich der Autor umgebracht hat, dadurch sind uns wahrscheinlich jede Menge gute Bücher entgangen.

LG Sam

AW: Wer stiehlt schon Unterschenkel

“Pinky saß auf einer Mülltonne und träumte…” - ach da krieg’ ich ganz feuchte Augen… dass das noch jemand kennt.
Wenn man sich auf den schon etwas angestaubten Stil einmal eingelassen hat, ist Prokop echt lesenswert.