[COLOR=rgb(41, 105, 176)]Shadowrun - Der Blick - Teil 1
Mein Name ist Reinaldo Sosa. Ich weiß nicht, ob meine Geschichte einzigartig ist, aber auf jeden Fall werde ich sie erzählen, da ich sie für bedeutsam halte.
Ich war elf – oder elfeinhalb, weiß ich nicht mehr so genau, damals war mir dieser Unterschied wichtig, heute hat es irgendwie fast keine Bedeutung mehr – Elfeinhalb also. Mit Elfeinhalb, mitten in den Sommerferien zwischen erster und zweiter Klasse Mittelschule – das sind fünfte und sechste Stufe für euch Wildgeflügel. Ja, ich meine Deutsche, ADLer halt, >Adler<, kapiert? Ich schreibe hier extra für euch Hochdeutsch. – Also nochmal. Im Sommer zwischen erster und zweiter Klasse beginnt die Welt um mich herum plötzlich anders auszusehen, nicht immer, nur wenn ich vor mich hinstarre, beim Nachdenken und so. Plötzlich sieht dann alles anders aus und ich sehe noch Dinge die vorher nicht da waren, andere Sachen verschwinden dafür. Naja, Verschwinden ist vielleicht nicht das richtige Wort, ich kann sie nur nicht mehr erkennen, so als würde ein grauer Film darüber liegen. So wie zwei von diesen Folien, die, wenn man sie aufeinanderlegt, entweder durchsichtig oder undurchsichtig sind oder ein buntes Muster zeigen, wenn man eine davon dreht. Polarisation, genau, so heißt das Zeug. Auf jeden Fall sieht die Welt dann plötzlich genau so aus, manches voll bunt, anderes Zeug grau oder gar nicht mehr erkennbar.
Hat mich total fertig gemacht, jedes Mal wenn das passiert ist. Hab Geschichten meiner Eltern gehört – meine Familie stammt aus Chile, aber sie mussten da weg, wären sonst getötet worden. Sind Mal hierhin mal dorthin geflüchtet, durften ja nirgendwo bleiben. Irgendwann sind sie dann in den Alpen hängen geblieben, Schneesturm und wasweißich, sind beinahe alle abgekratzt. In der Nacht als sie dachten sterben zu müssen, haben sich meine Eltern noch ihre Liebe gestanden und, naja, mich gemacht. Als sie aufgewacht sind, war der Sturm vorbei und Soldaten von der MET2000 haben sie aus den Schneemassen ausgegraben. Vor Dank haben sie sich beide gleich verpflichtet, haben ihnen mehr oder weniger ihr Leben verpfändet. – Die Geschichten auf jeden Fall, ja da ging es um Psychosen von Soldaten die den Verstand verloren haben, wegen dem ganzen psychischen Druck und so. Mit elfeinhalb war ich zwar noch kein Soldat, aber Schule ist jetzt auch kein Zuckerschlecken sag ich euch, erinnert euch doch Mal selbst daran. Ich hatte auf jeden Fall voll die Panik, dass bei mir ein Rad ab war also hab ich keinem was davon erzählt und versucht mir nichts anmerken zu lassen, wenn es wieder losging.
Das geschah dann auch immer häufiger, hat mir in der Schule ganz schön die Noten zusammen gehauen, wie soll man auch lernen oder arbeiten, wenn der Bildschirm plötzlich nur noch eine graue Scheibe ist. Zum Glück bin ich nicht blöd – ich weiß, mein Schreibstil ist keine Prosa, aber hat ja mit Intelligenz nichts zu tun, oder? – Aber so hab ich es durch die zweite Klasse geschafft, obwohl meine Leistungen deutlich abgetaucht sind. Hab auch ein paar neue Freundschaften eingebüßt, obwohl das weniger schlimm war, die meisten davon waren sowieso falsch, das hab ich irgendwie an den Farben gemerkt, also wenn ich wieder diese Sicht hatte. Im Endeffekt hatte ich meine vier Leute mit denen ich immer unterwegs war: Gregor Čtvrtník – hab ihn eben extra angerufen, damit er mir seinen scheiß Namen nochmal buchstabiert. – Dann noch Iva Geißler, Evelin Wolf und meinen zwei Jahre jüngeren Bruder Lino, der hat einfach immer zu mir gehalten. Und Mann, hatte der einen Stand auf Iva, furchtbar, jedesmal wenn wir unter uns waren, hat er von ihr gesprochen, und wenn wir zusammen waren ist er förmlich an ihr gehangen. Keine Ahnung, ob sie es gemerkt hat, Evelin hat es auf jeden Fall gepeilt und Gregor war’s eigentlich egal, der war eh auf Evelin aus.
Neben Lino hatte ich übrigens noch zwei weitere Geschwister, auch beide jünger als ich. Meine Eltern haben nach ein paar heftigen Einsätzen beschlossen, dass noch was geht, außerdem meinten sie, mit bald dreizehn kann ich ja wohl auf ein kleines Kind aufpassen wenn sie weg sind, ich hätte eine gute Menschenkenntnis haben sie gesagt – von meinem Blick wussten sie natürlich noch nichts, aber ich glaube Lino hatte damals schon eine Ahnung, dass mit mir was Spezielles los war. – Außerdem, so sagte meine Mutter, könne ja Lino das Kleine und mich Babysitten wenn ich wieder Mal von der Rolle war. Sie hat das als Scherz gesagt, hab mich aber furchtbar darüber aufgeregt. Das war der schlimmste Streit, den ich je mit meinen Eltern hatte, zum Glück war Lino da und hat die Wogen wieder geglättet. Lino hat mich immer rausgehauen, hat mich runtergebracht wenn ich mich aufgeregt habe, oder hat mich wieder in die Spur gebracht wenn ich mal nicht mehr wusste wohin. Ohne Lino wäre ich am Arsch gewesen.