Sitzung 19 - Die Reise durch das Unterreich
[JUSTIFY]Halbohr ließ den Kopf hängen und zog röchelnd die Luft ein. Seine Lunge schmerzte. Es gab zudem ein rasselndes Geräusch, das er aus dem Inneren hören konnte. Der ätzende Atem der Kreatur hatte ihm zugesetzt. Doch in seinem Fiebertraum, der ihm während seiner Ohnmacht widerfahren war, hatte er auch das Gefühl von Hoffnung verspürt. Als ob er den Geruch von Laub und Harz vernommen hätte. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Er betrachtete das verätzte Fleisch seiner Hände und Arme. Die Haut war an einigen Stellen weiß geworden und begann bereits sich zu pellen. Er saß jetzt teilnahmslos dort und ein Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit. Wieder war es ein Kampf gewesen, der ihn fast das Leben gekostet hatte. Bevor er in Ohnmacht gefallen war, hatte er den Segen der seltsamen Chaosgöttin gespürt, ohne deren Beistand er vielleicht nicht mehr am Leben wäre. Konnte er wirklich den vertraglich zugesicherten Schutz leisten? Der Jüngling hatte ihm bereits mehrere Male das Leben gerettet. Als ob Neire seine Gedanken erlesen könne, hörte er plötzlich dessen Stimme: „Halbohr, ihr seht so traurig aus. Grübelt nicht über den Tod. Ihr hattet kein Glück heute. An einem anderen Tag wird es wieder anders aussehen.“ Er blickte auf und sah, dass Neire ihn freundschaftlich anlächelte. Doch irgendwie traute er den Worten nicht und vermutete einen bösen Spott. Als er jedoch keine weitere Reaktion des jungen Priesters sah, nickte er ihm freundlich zu. Neire erhob erneut die Stimme: „Ihr solltet vielleicht einen Witz erzählen Halbohr. Das wird euer Gemüt sicherlich aufheitern.“ Halbohr schwieg. Er kannte einige soldatische Scherze aus der vergangenen Zeit, doch diesen waren unangebracht hier und spiegelten nicht seine Laune wider. „Es gab eine Zeit, da habe ich ihnen die Kehlen aufgeschlitzt. Denen, die Witze machten.“ Erwiderte er barsch. Er hörte das helle Lachen von Neire. „Kehlen aufschlitzen, das ist der Witz, eure Freude. Das ist doch ein Anfang Halbohr!“ Er sah, dass auch Bargh sich jetzt ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens hörte er wieder die zischelnde Stimme fremder Intonation: „Wie wäre es hiermit? Ihr werdet Halbohr genannt, ja? Euch fehlt ein Ohr, ja? Wieso sollten andere mehr Ohren haben als ihr? Das ist doch ungerecht. Schneidet sie einfach ab Halbohr. Jedem, den ihr seht. Vielleicht eins, vielleicht zwei. Das ist doch viel besser als Kehlen aufzuschlitzen.“ Neire lachte jetzt mit seiner knabenhaften Stimme und Bargh stimmte ein. Auch Halbohr konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Junge hatte keine schlechten Ideen. Doch was sollte er dann mit den ganzen Ohren machen?
Sie hatten noch mehrere Tage gerastet in dem sechseckigen Raum. Die blaue Barriere hatte sie geschützt, doch gesehen hatten sie keine Kreatur. Wenn sie nicht geschlafen, gebetet oder meditiert hatten, hatten sie die wässrigen Pilze gegessen, von denen Bargh immer die doppelte Portion verschlang. Auch hatten sie sich unterhalten. Über dies und das und ihre Reise nach Grimmertal. Bargh hatte von einem Handelsposten berichtet, dessen Betreiber Rannos und Grimag waren. Als Bargh eine plötzliche Fieberkrankheit entwickelte, hatte ihn Neire mit der Kraft seiner Göttin geheilt. Dann waren sie aufgebrochen und hatten das dunkelelfische Gefängnis hinter sich gelassen. Ihr Weg führte sie nach der Beschreibung der Herrscherin durch die Tunnel der ewigen Dunkelheit. Nach stundenlangem Fußmarsch waren sie schließlich durch eine zerbrochene Türe in eine große unterirdische Halle geschlüpft, in deren Mitte sie die steinerne Steele sahen. Neben der zweiten doppelflügeligen Türe hatte Halbohr die Geheimtüre entdeckt, die nach der Aussage der Herrscherin zu einer kleineren Feste, mit Anschluss an die Oberwelt, führen sollte. Schließlich hatten sie sich für diesen Weg entschieden und die Geheimtüre und eine weitere Türe dahinter geöffnet. Jetzt standen sie am Eingang eines Raumes, aus dem ein sanftes mattes rötliches Licht hervordrang.
Neire betrachtete Halbohr, wie er geschickt in den Raum glitt, der sich vor ihm auftat. Schon zuvor hatte er die Bewegungen des Elfen studiert, als er mit seinen Dietrichen das Schloss der steinernen Türe geöffnet hatte. Der Raum war sechseckig in den Stein geschliffen und besaß einen gegenüberliegenden Ausgang. Einrichtung, wie Betten, Hocker, Tisch und Truhen, waren allesamt aus Stein. Sogar eine steinerne Wanne stand dort, in der Neire Wasser aufschimmern sah. Aber Neires Blick fokussierte sich auf den Bereich des rötlichen Glühens. Er sah dort eine kleine Feuerschale, in der drei brennende Kohlestücke lagen. Als er sich der Schale näherte, spürte er die wohlige Hitze, die von dort ausging. Seine Kameraden Bargh und Halbohr durchsuchten derweil den Raum. Neires Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Er erinnerte sich an Bereiche des Palastes von Nebelheim, die mit immerbrennendem Feuer versehen waren. War das eine ähnliche Magie? War sie göttlich? Er wurde erst aus den Gedanken gerissen, als Halbohr sich an der zweiten Türe zu schaffen machte. Noch immer dachte er daran Halbohr aufzumuntern. Vielleicht durch ein kleines Spiel. „Halbohr, lasst uns ein kleines Spiel spielen, eine Wette.“ Er sah, dass der elfische Söldner an der Tür kniete und sich jetzt zu ihm umdrehte. Neire holte eine Platinmünze hervor und schnippte sie in die Luft. „Um ein Platinstück… Wer die brennenden Kohlen länger in der Hand halten kann hat gewonnen.“ Neire bemerkte, dass Halbohr grinste. Mit überheblicher Stimme antwortete er. „Ich habe gesehen, dass das Feuer in euch ist. Wie sollte ich gegen euch gewinnen können?“ „Er hat Angst, Bargh. Angst ein kleines Spiel zu spielen.“ Neire dreht sich zu Bargh und lachte höhnisch. Dann nahm er ein Stück Kohle in seine linke, vernarbte Hand. Augenblicklich durchfuhr ihn ein Schmerz und er vernahm den Geruch von verbranntem Fleisch. Doch auch genoss er den Schmerz, denn es war ihm, als ob er diesen kontrollieren könnte. Dann warf er das Stück zu Halbohr. „Schnappt!“ Doch Halbohr machte keine Bewegung und die Kohle fiel auf den Boden. Der Söldner schien jedoch in Wallung zu kommen. Verärgert zog er einen seiner Dolche und warf diesen auf Neire. Kurz vor ihm prallte der Dolch auf den steinernen Boden und er versuchte ihn dort mit dem Fuß zu fixieren. Das gelang ihm nicht ganz. Die Klinge brach am Griff ab schlitterte durch den Raum. Den Griff hatte er unter seinem Stiefel fixiert. Neire bückte sich und zog den Griff hinauf. Er warf ihn Halbohr zu und sprach. „Hier Halbohr. Mein Teil der Wette ist erfüllt. Ihr schuldet mir ein Platinstück.“
Sie waren danach dem Tunnel gefolgt, der sie hinter der Tür aus dem Raum führte. Es war langsam bergan gegangen. Nach einiger Zeit waren sie dann an das Ende des Tunnels gekommen, an dem acht kleinere Löcher in schlankere Gänge mündeten. Der Geruch von Moder und Fäkalien war hier allgegenwärtig gewesen. Glücklicherweise hatten sie Spuren gefunden, die in einen der Gänge führten. Neire hatte nach Pflanzen und Pilzen gesucht und in einer Nische Grabmoos entdeckt. Eine Flechte, die das Verrotten von Leichen beschleunigte. Auch konnte aus Grabmoos ein Gift hergestellt werden, das die Blutung von Wunden förderte. Sie hatten das Grabmoos verstaut und waren den Gängen gefolgt, die nun steiler nach oben führten. An vielen Abzweigungen vorbei waren sie, den Spuren nach, an eine Engstelle gekommen, die sie nur mühevoll passieren konnten. Dann hatten sie die Spuren verloren. Doch der Tunnel vor ihnen wurde wieder breiter und war ebenerdig. Nichts war zu hören. Moos wuchs hier und dort und Unrat bedeckte den Boden. Der Gestank von Fäulnis und Fäkalien war überwältigend. Sie bissen die Zähne zusammen und traten ein in den noch unerforschten Bereich.[/JUSTIFY]