[JUSTIFY]Sitzung 71 - Ins Herz der Kristallnebelberge
Die Sonne war schon im Westen verschwunden und das Licht dämmerte langsam. Sie waren den Tag über gewandert. Ihr Weg hatte sie an der Ostflanke der Kristallnebelberge entlanggeführt. Die majestätische Landschaft von weißen Gipfeln war immer dann zu sehen gewesen, wenn der wolkige Himmel aufbrach. Einige Gebirgsflüsse hatten sie überquert, die einen relativ niedrigen Wasserstand gehabt hatten. Jetzt waren sie müde und ihre Füße taten weh, von der Wanderung. Als sie die Lichtung im spärlichen Gebirgswald überquerten, zeigte Bargh auf eine Stelle nahe des Waldsaums. Unweit von einem kleinen Bach schien es, als wären zwei Felsen auseinandergebrochen. „Seht ihr den Überhang? Er wird uns einen Unterschlupf für die kommende Nacht geben“, sagte Bargh und wendete sich zu Neire und Zussa. Schweiß glänzte auf dem haarlosen, vernarbten Kopf des Kriegers und er verlangsamte seine Schritte. „Dann soll es so sein“, antwortete Neire. Sie schritten näher zu den Felsen und begannen ihr Lager auszubreiten. Neire und Zussa säuberten ihr Schuhwerk und ihre Kleidung von Morast. Dann schritten sie beide zu dem kleinen Bächlein und begannen sich zu waschen. Sie blickten hinab über die karge Bergwiese. Die östliche Hügellandschaft war in den Niederungen von Nebeln verhangen und ein kühler Bergwind frischte auf. Neire fröstelte in der Kälte des Bächleins, hatte er doch seine Schuhe und Kleidung abgelegt. Zussa kam immer besser mit der Kälte klar. Sie hatte jedoch aus Scham ihre Unterkleider angelassen und wälzte sich so im Wasser. „Was macht Bargh eigentlich, Neire? Er sollte es uns nachtun und den Gestank dieses Abschaumes abwaschen. Seit wir die Feste verlassen haben, haftet uns dieser Geruch an.“ Neire lächelte Zussa zu und trat in Pfütze, in der sie saß. Zussa bekam das Wasser ins Gesicht und schaute ihn vorwurfsvoll an. Doch Neire bemerkte, dass das Mädchen seinen linken Arm betrachtete. Die schwärzlich verbrannte Haut schimmerte rötlich an seiner Schulter. Dort, wo die drei Herzsteine mit seiner Haut verwachsen waren. Bevor Zussa etwas sagen konnte, wendete Neire seinen Kopf und warf seine nassen, gold-blonden Locken zurück. „Riecht ihr nicht den Rauch. Bargh macht ein Feuer. Vielleicht brät er uns etwas von dem Fleisch.“ Zussa schluckte bei dem Gedanken an die Rindshälfte, die sie aus der Feste des Nomrus mitgenommen hatten. So gingen sie zurück zum Feuer und trockneten ihre Kleidung. Bargh hatte tatsächlich etwas von dem Fleisch gebraten. Doch der große Krieger Jiarliraes hatte bereits gegessen und war in einen tiefen Schlaf gesunken. Über seiner Winterdecke hielt er Glimringshert, das schwarze Schatten blutende Schwert. Für einen Augenblick hatte Neire neckische Gedanken, als er Bargh so wehrlos dort liegen sah. Der Hunger und die Müdigkeit waren aber größer. So aß er mit Zussa von dem Fleisch. Sie tranken das klare Gebirgswasser und unterhielten sich leise über Nebelheim. Neire lehrte Zussa die heiligen Worte der Sprache der Yeer’Yuen’Ti. Doch Zussa konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Immer wieder fielen dem Mädchen mit den roten Locken und den Sommersprossen die Augen zu. Schließlich wandte sich Neire an Zussa. „Ich werde die erste Nachtwache halten, Zussa. Wir werden ein andermal weitermachen, mit der heiligen Sprache der Yeer’Yuen’Ti.“ Er zischelte die Worte und Zussa schlug nochmals die Augen auf. Dann kuschelte sie sich in ihre Winterdecke und schlief ein. Nachdem er gegessen hatte, stand Neire auf, schritt über die Wiese und versuchte die Müdigkeit zu verdrängen. Er blickte in Richtung der entfernten Berge, die wie weiß gepuderte Riesen in den Nachthimmel aufragten. Er dachte an ihre Aufgabe und an ihre Reise. Er dachte an Nebelheim und an den Schrein des Jensehers, an Halbohr. Und er genoss den Anblick der Oberwelt, ihre grenzenlose Freiheit.
„Neire, schnell, wacht auch.“ Zussas Stimme war warnend und eindringlich. Neire schreckte augenblicklich auf und blickte sich um. Es noch nicht lange hell. Graue bleierne Wolken bedeckten den Himmel. Die Glut des Feuers loderte noch. Zussa grinste ihn mit großen, grünlich funkelnden Augen an. „Was Zussa? Wieso müsst ihr mich jetzt wecken…“ Mürrisch runzelte Neire die Stirn. Das Zwitschern von Vögeln war zu hören und Zussa zeigte in Richtung des Bächleins. „Dort Neire, schaut.“ Neire richtete sich langsam auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte in die Richtung, in die Zussa zeigte. Dort wusch sich Bargh. Er hatte seine Rüstung abgelegt, war nackt und offenbarte seinen, von Brandwunden und Schwertnarben bedeckten Körper. Nachdem Bargh den Schicksalskartenfächer gespielt hatte, war seine Statur auf die Größe eines Ogers angewachsen. Bargh hatte zudem abgenommen. Muskelstränge waren an seinem gesamten Körper zu sehen. Zussa hielt sich die Hand vor den Mund, als sie kichernd auf den nackten Bargh zeigte. Neire atmete zischelnd ein und aus und stieß einen Fluch der Yeer’Yuen’Ti aus, den Zussa noch nicht kannte. „Habt ihr noch nie einen nackten Mann gesehen, Zussa?“ Er sah, dass Zussa errötete und verlegen zu Boden schaute. „Naja, eigentlich nicht. Nur Kinder und Jungen.“ Neire nickte und erinnerte sich an die Feste in Nebelheim zurück. Wie sich die Yeer’Yuen’Ti in der von Alkohol und Drogen geschwängerten Luft ungezügelter Lust hingegeben hatte. Er verdrängte die Gedanken an die Orgie der Massen und zog das Zauberbuch hervor, das einst Ortnor besessen hatte. Sie wollten bestimmt bald aufbrechen und er musste sich der schwarzen Kunst widmen.
Sie waren bereits zwei Tage gewandert und der bleierne Himmel hatte sie begleitet. Es hatte nicht geregnet. Die weißen Gipfel waren jedoch hinter der Wolkendecke versteckt gewesen. Immer höher und höher hatte sie das Tal geführt. Die letzten Bäume hatten sie schon am ersten Tag hinter sich gelassen. Sie waren in eine Wüste aus grauem Fels und Gestein gelangt. Ein reißender Strom grünlich schimmernden Wassers hatte ein Hochtal durchflossen; hatte sich in Schlangenlinien seine Bahn durch die Geröllmoränen gesucht. Bargh hatte nach Spuren gesucht, bevor sie sich niedergelassen hatten. Und er war fündig geworden. Große Abdrücke von Monstrositäten, mit drei Zehen, hatte er entdeckt. Die Abdrücke waren noch nicht alt gewesen und so hatten sie die erste Nacht umso wachsamer verbracht. Irgendwann waren sie von Bargh geweckt worden. Ein eisiger Wind war durch das karge Tal gezogen. Wolken hatten jedes Sternenlicht verschluckt. Sie hatten die Dunkelheit durchblicken können und die Kreaturen gesehen, die sich dort anpirscht hatten. Die Gestalten waren von einer primitiven Intelligenz gewesen, doch sie hatten sich instinktiv geschickt bewegt. Sie waren abgemagert gewesen, von gräulich-grünlicher Haut und dünnen Armen und Beinen. Die Gesichter der drei Schritt großen Kreaturen hatten wie entstellte Fratzen von Menschen gewirkt - lange Fangzähne und Mäuler aus denen Geifer rann. Neire hatte den Vorteil genutzt und das Feuer Jiarliraes hervorgerufen, das die Kreaturen einhüllt hatte. Doch sie waren herangestürmt, vier Stück an der Zahl. Der Kampf war kurz gewesen, doch tödlich. Glimringshert hatte durch die Leiber geschnitten und Bargh hatte einen Troll nach dem anderen niedergemacht. Sie hatten die Leichen entzündet, so gut wie es ging. Den Rest der Nacht hatten sie dann in unruhigem Schlaf verbracht. Am nächsten Morgen war die Reise von ihnen fortgeführt worden. Sie hatten nur die Karte mit der Markierung der Riesen gehabt und waren ins Ungewisse gewandert. In unweiter Entfernung ihres Nachtlagers hatte Bargh dann die Spuren der Trolle entdeckt. Sie waren den Spuren gefolgt und in eine kleine verlasse Höhle gelangt, die sie abgesucht hatten. Nachdem sie die Schätze der Trolle in Ortnors extraplanares Labor geschafft hatten, waren sie weitermarschiert. Höher und höher hatte sie das Tal geführt, welches sich schon bald verzweigt hatte. Die Klamm war enger und steiler geworden und schließlich wurden sie gezwungen zu klettern. Weiter aufwärts hatten sie einen Grat gesehen, an dem das Tal endete, doch im schwindenden Lichte des Abends war es ihnen nicht möglich gewesen den Grat zu erreichen. So hatten sie sich zu einer weiteren Rast niedergelassen. Bargh musste wohl kurz eingenickt sein. Er hatte noch das Bild des Traumes im Kopf. Wie er die Pforte in das Heiligtum von Fürstenbad öffnete. Er hatte gedrückt. Stärker und stärker. Doch das Tor wollte sich nicht bewegen. Dann hatte er das Bersten von Holz vernommen und den Schmerz gespürt. Als er nun aufschreckte, merkte er, dass der Schmerz echt war. Felsbrocken stürzten neben ihm hinab und der große Stein hatte sie nur um Haaresbreite verfehlt. Er fühlte nach den kleinen Steinsplittern, die sich in seine Haut gebohrt hatten. Instinktiv blickte er sich um, schaute hinauf durch das felsige Tal. Im Mondlicht bemerkte er sie. Dort oben sah er die Regung. Eine Gestalt, kaum zu unterscheiden vom glitzernden Schnee, der dort erstmalig auftrat. Die Gestalt war riesenhaft. Das konnte Bargh bereits aus dieser Entfernung erkennen. Muskulös war der Krieger, der bereits einen weiteren Felskoloss hob. Hell-bläulich leuchteten seine Haare im Licht des Mondes und seine Haut schimmerte wie das Eis eines Gletschers. Die Kreatur trug ein Kettenhemd sowie Fälle und ein langer Bart reichte bis auf ihre Brust. Bargh musste reagieren bevor es zu spät war. Er schrie in den heulenden Wind: „Neire, Zussa, wacht auf. Versteckt euch, hinten den Felsen.“ Hastig sprangen die drei auf und begannen nach Deckung zu suchen. Keinen Augenblick zu spät, denn ein weiterer Felsbrocken, diesmal tödlich nahe, brach über ihre Deckung hinweg. Sie lugten aus ihrem Versteck hervor. Sie sahen, dass die Gestalt mit großen Schritten näherkam und nach einem weiteren Felsbrocken griff. Neire murmelte bereits Worte arkaner Macht und richtete sich auf. Durch seinen Schattenmantel war er fast völlig unsichtbar. Die Kugel, die wie eine glühende Träne in Richtung des Riesens schoss, war klein und schwach. Doch nur einen kurzen Augenblick später zuckte Magmafeuer in einer Explosion auf, das die gesamte Gestalt umhüllte. Nach dem verzögerten Donnerhall, hörten sie das Brüllen der Kreatur und das Zischen des nächsten Geschosses. Der dritte Felsbrocken krachte in ihre Deckung und brach fast den gesamten Felsvorsprung ab, hinter den sie sich duckten. Sie drohten mit dem Felsen in die Tiefe zu stürzen. Dann zog Zussa ihren Rubinstab und Neire beschwor seine Kunst. Der Riese, der bereits sein Schwert gezogen hatte, wurde von kleinen, schattenhaften Magmageschossen durchbohrt. Sie sahen, wie er noch einige Schritte weiterging und dann der Länge nach zusammenbrach. Sie wussten nun, dass sie an diesem Ort nicht mehr verweilen konnten. Hastig begannen sie sich aufbruchsbereit zu machen und stiegen weiter in die Höhe. Vorbei an dem Leib der fast sieben Schritt großen Kreatur und entgegen der Schneegrenze.
Höher und höher waren sie gestiegen. Der Morgen graute und der Wind, der sich an dem felsigen Schacht brach, der das Ende des Tals darstellte, war stärker geworden. Sie hatten sich in einer kleinen, geschützten Felsnische niedergelassen, als sie einen größeren Abstand zwischen die Gestalt und ihr Nachtlager gebracht hatten. Zussa und Bargh hatten sich Steigeisen unter ihre Stiefel geschnallt, während Neire in seinen magischen Stiefeln vorangeschritten war. Nach ihrem Frühstück und einer kleinen Rast brachen sie jetzt wieder auf. Entgegen dem Kamm aus Schnee. Der Wind wirbelte dort Flocken hervor. Auf dem harten Firneis kamen sie besser voran, doch die Luft war kalt und dünn. Bargh musste ab und an innehalten und keuchte mit jedem Schritt, den er in seiner Panzerrüstung machte. Schließlich kamen sie über den Grat und blickten und blickten auf die andere Seite. Es ging ein wenig hinab, über spiegelglatte, glitzernde Firnfelder. Im Reigen von tanzenden Eiskristallen, blickten sie auf ein ewiges Reich des Winters. Die hart gefrorenen Schneefelder unter ihnen gingen in einen Gletscher über, der so weit ihre Augen sehen konnten reichte. An einigen Stellen durchbohrten schroffe dunkle Felsen das Eis, das von tiefen Gletscherspalten durchzogen wurde. Weiter entfernt sahen sie Berggipfel aufragen, die in dem Nebel der Wolken über ihnen verschwanden. Neire zeigte auf einen Bereich, der von einer riesigen Gletscherspalte durchzogen wurde. Er schrie gegen den Wind. „Dort! Seht, die Spalte. Ich bin mir nicht sicher, aber das muss der Punkt, die Markierung sein.“ Bargh hatte sich gebückt und richtete sich jetzt wieder auf. „Die Spuren des Riesen führen dort hin. Doch es sind noch weitere Spuren zu sehen. Der Angreifer war nicht allein.“
Die Spuren hatten sie zu Stufen im Eis geführt. Zuvor hatten sie langsam und beharrlich die Eiswüste navigiert. Trotz des nahenden Winters war nicht viel Neuschnee gefallen und die Spalten waren sichtbar gewesen. Auch waren die Spuren der Riesen einem ausgeklügelten Pfad gefolgt, der größere Gletscherspalten umrundete. Sie waren schnell vorangekommen und blickten jetzt in die Tiefe. Die Stufen waren in das Randeis der riesigen Spalte geschlagen. Sie teilten sich in einen linken und einen rechten Weg auf. Sie schritten tiefer und folgten dem linken Weg. Das Heulen des Windes verbarg einen jeden ihrer Schritte. Sie hatten ihre Waffen gezogen, da Bargh sie auf die Spuren hingewiesen hatte, die hier hinab führten. Tiefer in der Spalte wagten sie einen Blick in den Abgrund, der sich zu ihrer Rechten auftat. Der Gletscher schimmerte in seltsamen Blautönen und tief unten sahen sie einen eisigen Boden. Schließlich kamen sie an einen Tunnel, der zur Linken ins Eis führte und sich dort verzweigte. Aus dem Inneren hörten sie sonore Stimmen einer fremden Sprache. Die kuppelförmigen Eisgänge waren von riesenhaften Ausmaßen, so dass sie sich wie kleine Fliegen vorkamen, die in diese kalte, fremde Behausung eindrangen. Hinter einer Biegung sahen sie die Kreaturen auf Eisbrocken sitzen. Eine Eishöhle, die mit Fellen ausgelegt war, tat sich vor ihnen auf. Alle vier Riesen waren mit Äxten bewaffnet und in Kettenhemden gehüllt. Sie hatten lange weißliche Haare und Bärte, die fettig und in Strähnen von ihren Köpfen fielen. Neire hatte sich vorgeschlichen und eröffnete den Angriff aus dem Hinterhalt. Die Höhle wurde von einer Explosion von Magma erfüllt, die die Riesen einhüllte und Teile des Eises schmelzen ließ. Im sich neu gebildeten Nebel stürmte Bargh voran und griff unbarmherzig an. Zussa beschwor die Kraft von Jiarlirae und gemeinsam töteten sie einen nach dem anderen. Doch aus einem der Tunnel hörten sie Schreie und Gebrüll. Drei weitere Kreaturen stürmten heran, die von Neires und Zussas elektrischen Flammen invertierten Lichtes empfangen wurden. Bargh hob unbarmherzig sein Schwert und machte die letzte Kreatur nieder, die ihm ihren Rücken zugedreht hatte und ihr Heil in der Flucht suchte. Keuchend blickten sie sich hektisch um. Der durch das Feuer hervorgerufene Nebel war überall, doch keiner war verletzt. Waren sie bemerkt worden?[/JUSTIFY]